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Plagwitz: Industriekultur und Individualität im Leipziger Westen

Im Leipziger Stadtviertel Plagwitz liegt immer ein bisschen Aufbruchsstimmung in der Luft. Die Neugier auf Neues. Der Mut, Dinge neu zu denken. Die Sehnsucht, verlassenen Orten neues Leben einzuhauchen. Plagwitz ist lässig, liberal, links und liebevoll. Alles kann, nichts muss. Zwischen ehemaligen Fabrikhallen leben heute Alt- und Neuleipziger in einer spannenden Koexistenz von Industriekultur und Individualität.


Plagwitz: Industriekultur und Individualität im Leipziger Westen ♥ Lesezeit: 10 Minuten


Platsch, platsch. Das Wasser ruht still in der Morgensonne, nur das stete Geräusch, wenn das Paddel die Wasseroberfläche durchbricht, erklingt am frühen Morgen wie ein beruhigendes Mantra. Kräftige Arme steuern das Kanu, das elegant dem Horizont entgegengleitet und unter tiefhängenden Ästen zuerst kleiner wird und dann in der Ferne verschwindet. Platsch, platsch.

Der Karl-Heine-Kanal mäandert wie ein grünes Band durch Leipzig. Morgens gleiten Kanus über das Wasser, nachmittags sitzen sonnenhungrige Besucher am Ufer, abends wird am Wasser gefeiert. Das Leben ist prall in Plagwitz im Leipziger Westen, wo der Karl-Heine-Kanal eine stete Konstante ist, genauso wie sein Namensgeber. Dieser hatte einst Großes vor. Karl Heine war Rechtsanwalt, in erster Linie aber war er ein Visionär. Er hatte ein Bild von seiner Stadt Leipzig im Kopf, das für das 19. Jahrhundert durchaus ambitioniert war. Der Westen Leipzigs war damals eine Sumpflandschaft, feucht und klamm. Heine aber sah das, was daraus werden könnte. Er widmete sich der Bebauung der Ortschaften westlich des Leipziger Stadtkerns und plante Straßen, Alleen und Wasserwege in Plagwitz und Lindenau. Die Trockenlegung der Gebiete und die Nutzung als Industriestandorte war sein langfristiges Ziel. 

1856 starteten die Schachtarbeiten für das Gewässer, das abgetragene Gestein wurde verwendet, um das Sumpfland trockenzulegen. Der Plan ging auf. Karl Heine ging als Industriepionier in die Geschichte ein, allerdings wurde seine Idee, den Karl-Heine-Kanal mit Hamburg und den Weltmeeren zu verbinden, nie realisiert. Er starb 1888, die Arbeiten am letzten Teilstück endeten 1898. Während des Deutschen Reiches wurde noch einmal versucht, den Kanal für Frachtschiffe befahrbar zu machen, doch auch hier scheiterte man. Heute endet der Karl-Heine-Kanal zwischen Leipzig und Leuna irgendwo im Nirgendwo. Geblieben sind die Erinnerungen an einen Industriepionier und ein 3,3 Kilometer langer Wasserlauf, der von 15 Brücken überspannt wird und ein Leipziger Kulturdenkmal ist.

Die Visionen, die Karl Heine einst beflügelten, sind heute noch zu spüren. In Plagwitz ist das Leben geprägt von der vergangenen Industriegeschichte und Menschen, die größer denken wollen. Zwischen ehemaligen Fabrikhallen und dem steten Strom des Karl-Heine-Kanals leben heute Freidenker, Kreative und Künstler. Die Stimmung schmeckt nach Aufbruch, man ist lässig, liberal, links und lässt alles zu, Industriekultur und Individualität gleichermaßen. Kein Wunder, dass die „New York Times“ in einem Artikel vom 9. Januar 2020 Leipzig als „cool-kid town“ betitelte. Als „cool“ hätte man das, was Karl Heine einst in Plagwitz anstieß, damals nicht bezeichnet, für seine Zeit waren seine Ideen aber durchaus modern. Denn der Karl-Heine-Kanal war das eine; die Ansiedlung von Industrieunternehmen auf dem ehemaligen Sumpfgelände das andere. Karl Heine schuf in Plagwitz das älteste planmäßig konzipierte Industrieviertel Deutschlands und kombinierte Wohnquartiere und Arbeitsstellen in einem; sogar Schrebergärten – eine Leipziger Erfindung – waren Bestandteil seiner Vision. Sein Weitblick funktionierte: Mitte der 1880er Jahre hatte Plagwitz ca. 16.000 Einwohner – genauso viele, wie heute hier leben. Dabei wohnten einst im „Dorf“ Plagwitz bei Leipzig nur etwa 300 Menschen.

In den Industriehallen von einst ist das Leben heute ein anderes. Wo früher die größte Baumwollspinnerei Kontinentaleuropas in Plagwitz stand, haben sich heute Künstler und Kreative angesiedelt. Die Backsteinbauten mit den hohen Fenstern stehen noch immer auf zehn Hektar Landfläche und erinnern an jene Zeit, als hier Baumwolle gesponnen wurde. 1884 gegründet, wuchs im Laufe der Jahrzehnte eine Fabrikstadt mit über 20 Produktionsgebäuden, Arbeiterwohnungen, Kindergärten und einer Erholungssiedlung. In ihren besten Zeiten wurde in der Baumwollspinnerei mit 240.000 Spindeln Baumwolle verarbeitet und bis zu 4.000 Menschen waren beschäftigt.

Mit der deutschen Wende war allerdings Schluss. Ab 1990 wurden die meisten Betriebe liquidiert und die Fabrik stand leer. Bis die kreative Szene Leipzigs das Potential der Backsteinbauten erkannte. Immer mehr Künstler zogen ein und rebellierten gegen den Leerstand, erst nur geduldet, am Ende aber erlaubt. Stadt und Investoren starteten ein Aufbauprogramm, heute ist das ehemalige Fabrikgelände der Ort mit der höchsten Kunstdichte in Leipzig. Rund 80 Künstler, 10 Galerien, das LOFFT Theater und viele Läden bestimmen das Bild und sorgen für das pralle Leben, für das Plagwitz heute steht. Eine Führung durch die Baumwollspinnerei ermöglicht eine Zeitreise, bei der man von der Industrievergangenheit direkt in den bunten Lofts und Ateliers der lokalen Künstler ankommt.

Nur 500 Meter weiter ist die Zukunft besonders intensiv. Im Kunstkraftwerk Leipzig wird New Media Art auf das nächste Level gehoben. Hier dreht sich alles um Farben, Formen, Bilder und Musik und wie sie gemeinsam ein großes, beeindruckendes Ganzes ergeben. Seit 2016 ist das Kunstkraftwerk Leipzig der europäische Hotspot für New Media Art. Betritt man die dunklen Hallen, ahnt man nicht, was einen erwartet. Bis die ersten Bilder auf den riesigen Leinwänden erscheinen und die Musik tief unter die Haut geht. Schwerpunkt hier sind intensive Kunstprojekte in Bild und Ton, die unterschiedliche Themen aufgreifen: Kunst und Künstler genauso wie jene industrielle Umgebung, die Plagwitz prägt.

Steht man danach auf der Straße, ergriffen und beseelt, versteht man Plagwitz besser. Es liegt immer ein bisschen Aufbruch in der Luft. Die Neugier auf Neues, der Mut, Dinge neu zu denken. Und stets schwebt über allem ein kleines bisschen Rebellion und die Sehnsucht, verlassenen Orten neues Leben einzuhauchen. Nicht weit entfernt in der Karl-Heine-Straße fühlt man sich dann beinahe wie ein „cool kid “, egal ob alt oder jung, ob Alt- und Neuleipziger. Zwischen Graffitis und Gartenlokalen, Szene-Lokale und Spätis wuseln Menschen, leben und lieben und lassen sich vor allem sein, wie sie sind. In Plagwitz zeigt Leipzig seine offene Seite, liberal, liebevoll, links, lässig.

Aus dem 19. Jahrhundert stammt das Westwerk auf der Karl-Heine-Straße, ein bunter Schmelztiegel von Kunst, Musik und Kultur, dessen Mauern mit bunten Graffitis weithin leuchten. Neben Proberäumen lokaler Bands gibt es hier Ateliers von Künstlern, Büros von Start-ups, einen Konsum und dazu Cafés und viele Freisitze. Die stellen ohnehin das Herz von Plagwitz, wenn bis weit in die Nacht draußen gequatscht und getrunken wird und ein stetes Stimmengewirr über das Stadtviertel schwebt. Am Kanal mit einem Ein-Euro-Bier aus dem Späti genauso wie in jenen Läden, die das Flair Plagwitz‘ nicht besser transportieren könnten. Im alternativen Biergarten „Zum Wilden Heinz“ auf ausrangierten Gartenmöbeln umgeben von einem fast tropischen Garten. In der urigen Wohnzimmer-Atmosphäre der Kultkneipe „Noch Besser Leben“. In der klitzekleinen „Brühbar“ mit dem besten Kaffee der Stadt. Oder im „Heimathafen“ direkt am Wasser, wo sich abends die Backsteinmauern der einstigen Industriegebäude auf der Wasseroberfläche spiegeln und das beruhigende Mantra zum eiskalten Bier wieder zu hören ist. Platsch, platsch.


Insidertipps für Plagwitz

Baumwollspinnerei: Die ehemals größte Baumwollspinnerei Kontinentaleuropas ist ein absolutes Must-See. Jeden Freitag  zwischen 12 und 16 Uhr und jeden Samstag zwischen 11 und 16 Uhr gibt es Führungen (Spinnereistraße 7, 04179 Leipzig; € 11 pro Person).

Niemeyer-Kugel: In den Kirow-Werken thront die sogenannte „Niemeyer Sphere“, eine Kugel aus Glas und Beton, die auf eine Ecke des alten Backstein-Gebäudes gesetzt wurde. (Niemeyerstraße 2-5, 04179 Leipzig) 

Plagwitz: Industriekultur und Individualität im Leipziger Westen

Kunstkraftwerk: Das ehemalige Kraftwerk der Leipziger Straßenbahn wurde in eine Halle für digitale Kunst umfunktioniert. (Saalfelder Straße 8, 04179 Leipzig; € 11 pro Person)

Westwerk: Auf dem Gelände des Kunstquartiers gibt es einen bunten Mix aus Kunst, Musik, Kultur, Cafés, Secondhandläden, Künstlerateliers und Yoga- und Tattoostudios. (Karl-Heine-Straße 93, 04229 Leipzig)

Westfach: Im „Handmade- und Record-Store“ gibt es Vintage- und Upcycling- Produktionen, selbstgenähte Textilien, Skulpturen, Lampen, Photographien, Drucke, Bilder, Schmuck, Design und mehr. (Karl-Heine-Straße 85, 04229 Leipzig)

Plagwitz: Industriekultur und Individualität im Leipziger Westen

Kaiserbad: Direkt neben dem Westwerk ist das Kaiserbad mit seinem Retro-Industriecharme ein angesagter Treffpunkt. (Karl-Heine-Straße 93, 04229 Leipzig)

Brühbar: In der klitzekleinen Kaffeebar gibt es den besten Kaffee der Stadt – zum Vor-Ort-Trinken genauso wie Zum-Zuhause-Brühen. (Weißenfelser Straße 24, 04229 Leipzig)

Hafen: Der hübscheste Concept Store in Plagwitz verkauft Papier, Textilien, Wohndekor und wunderhübschen Kleinkram. (Karl-Heine-Straße 75, 04229 Leipzig)

Plagwitz: Industriekultur und Individualität im Leipziger Westen

Tapetenwerk: Das Gelände des Tapetenwerks ist seit 2007 Produktionsstandort für rund 20 Künstler, Designer, Architekten und kreatives Handwerk. (Lützner Straße 91, 04177 Leipzig)

Felsenkeller: 1890 erbaut, ist das Lokal eine Legende mit seinem Ballsaal und Biergarten. (Karl-Heine-Straße 32, 04229 Leipzig)

Zum Wilden Heinz: Der schönste Biergarten in Plagwitz mit ausrangierten Gartenmöbeln in einem üppig bewachsenen Garten. (Hähnelstraße 22, 04177 Leipzig)

Plagwitz: Industriekultur und Individualität im Leipziger Westen

Noch Besser Leben: In der alternativen Kultkneipe herrscht eine urige Wohnzimmer-Atmosphäre. (Merseburger Straße 25, 04229 Leipzig)

Heimathafen: Tolles Lokal direkt am Wasser mit Holzsteg und leckeren Fischgerichten. (Könneritzstraße 14, 04229 Leipzig) 

Da Vito RistoranteEin italienischer Restaurantbesitzer hat drei Gondeln aus Venedig importiert und bietet neben Pizza auch Gondelfahrten für bis zu fünf Personen an. (Nonnenstraße 11B, 04229 Leipzig) 

Plagwitz: Industriekultur und Individualität im Leipziger Westen

Täubchenthal: Die ehemalige Kammgarnspinnerei ist eine Bühne für Konzerte und Kunst, im Ballsaal oder Clubzimmer wird getanzt. (Wachsmuthstraße 1, 04229 Leipzig)

RUDI: Die besten Cocktails der Stadt werden angeblich im „RUDI“ serviert. (Karl-Heine-Straße 59, 04229 Leipzig)

Steintreppe an der Philippuskirche: Eine Oase am Wasser mit tollen Blick auf die Kirche. Hierher kommt man tagsüber zum Picknicken, aber auch abends zum Weintrinken. (Aurelienstraße 54, 04177 Leipzig)  

Plagwitz: Industriekultur und Individualität im Leipziger Westen

♥ Offenlegung

Dieser Artikel entstand in einer bezahlten Zusammenarbeit mit Leipzig Tourismus und Marketing GmbH. Meine Meinung ist aber völlig unvoreingenommen und stets meine eigene. Weitere Infos über Leipzig gibt es auf www.leipzig.travel.


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