Warschau wirkt auf den ersten Blick, als hätte jemand einen zart-grauen Filter über die Stadt gelegt. Zwischen Pracht- und Plattenbauten in allen Grauschattierungen zeigt die 1,7-Millionen-Metropole ihr buntes Gesicht erst, wenn man um die Ecke strolcht und sich abseits der ausgetretenen Pfade auf die polnische Hauptstadt einlässt.
Reise nach Warschau: Das polnische Wunder an der Weichsel ♥ Lesezeit: 7 Minuten
Warschau, 7 Uhr Früh, ein leichter Dunst liegt über der Stadt. Als ich vom unterirdischen Gleis am Warszawa Centralna ins Morgenlicht trete, riecht es überall nach Kaffee. Rush Hour in der polnischen Hauptstadt, und ich wische mir die Müdigkeit aus den Augen, als ich nach oben laufe und meine ersten Schritte durch Warschau mache.
An meiner Seite ist stets der „Palac Kultury i Nauki“, der sich mitten in der Stadt weit nach oben erhebt und von überall zu sehen ist: Der 237 Meter hohe Kulturpalast prägt nicht nur das Stadtbild, er erzählt auch ein großes Stück Geschichte: Der fast schon protzige Prachtbau hieß einst „Josef-Stalin-Kultur-und-Wissenschaftspalast“ und war ein Geschenk der Sowjetunion unter Diktator Josef Stalin an Polen; noch heute nennen viele Warschauer das Gebäude „Stalinstachel“. Hinter vorgehaltener Hand lachen sie gerne darüber, dass man den schönsten Blick auf die Stadt von der Aussichtsterrasse im 30. Stock hat; allerdings nicht, weil der Blick am besten ist, sondern weil man dann den Kulturpalast nicht sieht.
Warschau: Palac Kultury i Nauki
Tatsächlich ist der Blick von oben sehenswert und zeigt Besuchern vor allem die Weite und Größe der Stadt: Man blickt auf gigantische Wolkenkratzer, heruntergekommene Plattenbauten, breite Straßen voller Autos und Menschen – und in der Ferne glitzert das Wasser der Weichsel. Der schönste Blick über die Stadt ist jedoch ein anderer: Ganz nahe am „Palac Kultury i Nauki“ befindet sich das „Intercontinental Hotel“; auf den ersten Blick einer von vielen Wolkenkratzern der Stadt, doch der Geheimtipp verbirgt sich auf 150 Meter Höhe.
Im 44. Stock des Hotels findet man im „Riverview Wellness Centre“ den am höchsten gelegenen Pool Warschaus und ganz Europas. Der Wellnessbereich überzeugt mich zwar nicht, da der Poolbereich voller lauter Russen ist und die Umkleiden nicht gereinigt sind, dafür entschädigt mich aber die Aussicht: Als ich kurz vor Sonnenuntergang auf die Stadt blicke, ist Warschau zwar wieder in ein blass-graues Licht gehüllt, aber eines, das schöner nicht sein kann. Und auch, wenn die Einwohner gern über den „Stalinstachel“ lachen: Für mich gehört der Kulturpalast auf jedes Panoramafoto der Stadt, das man hier oben in seiner schönsten Form schießen kann.
Warschau: ein Hauch Melancholie
Wieder unten in den Straßen der Stadt wird mir an vielen Stellen bewusst, wie viel Geschichte man hier lernen kann. Geschichte über eine Zeit, die tragischer nicht sein konnte und die ganze Welt prägte. 1944 lag im Zweiten Weltkrieg 83 Prozent des Stadtgebietes in Schutt und Asche. Von 1,3 Millionen Einwohnern vor dem Krieg starben mehr als 700.000. Die Stadt trägt viele Narben, vielleicht schwebt deshalb ein Hauch Melancholie über der Stadt, vor allem auf der anderen Seite der Weichsel im Bezirk Praga.
Cineasten kennen die Ecke aus dem preisgekrönten Film „Der Pianist“ von Roman Polanski. Viele Straßenzüge und Häuser hier wirken, als hätten sie sich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht verändert; kein Wunder, dass die Gegend immer wieder als Filmkulisse dient. Und vielleicht ist genau das auch der Grund, warum es hier heute eine irrsinnig junge Szene gibt, die der Stadt ein hippes Flair und vor allem neue Farben verleiht.
Warschau: Museum of Life under Communism
In der „Soho Factory“ tummeln sich auf einem ehemaligen Industriegelände Start-ups, Designläden und Bars, aber auch nostalgische Projekte, die Besuchern ein gutes Gespür für die Stadt vermitteln. Als ich das „Czar Prl“, das „Museum of Life under Communism“ betrete, muss ich schon grinsen, bevor ich mir überhaupt etwas angeschaut habe: Die Eintrittskarte ist gestaltet wie eine Rabattkarte zu Zeiten des Kommunismus, zur Begrüßung gibt’s direkt ein Stamperl Wodka. Das Museum ist zwar irrsinnig klein, man kann aber in zwei nachgestellten Zimmern viele Erinnerungsstücke aus Zeiten des Kommunismus bestaunen und eine kleine Zeitreise machen.
Nur wenige Schritte weiter geht es ähnlich bunt zu: Das „Neon Muzeum“ ist in Europa einzigartig und zeigt Neonschilder, die im sozialistischen Polen in den 60er- und 70er-Jahren überall hingen – allerdings nicht zu Werbezwecken, sondern zur Vermittlung von Information. Die Pause sollte man dann unbedingt bei „Warszawa Wschodnia by Mateusz Gessler“ machen: Hier gibt es hippe polnische Küche auf hohem Niveau. Unbedingt einen Platz an der Bar suchen: Dann sitzt man an der riesigen Schauküche und kann dabei zusehen, wie das eigene Essen zubereitet wird!
Warschau: Milchbars
Es ist auch das Essen, das in Warschau ein Stück Geschichte erzählt: Ganz typisch für Polen sind sogenannte Milchbars, die ihren Namen tragen, weil dort einst vorwiegend Milchprodukte angeboten wurden. Heute gibt es in den unzähligen Milchbars Polens klassische polnische Küche fürs kleine Geld, zum Beispiel bei „Prasowy“, wo Studenten neben Obdachlosen ihre Suppe schlürfen. Mein Lieblingslokal in Warschau ist jedoch ein anderes und hat mit der Stadt nichts zu tun, sondern mit der Idee zweier Warschauerinnen: Die Fans der Serie „Friends“ eröffneten vor ein paar Jahren eine Kopie des TV-Cafés „Central Perk“ der Serie. Das „Warsaw Perk“ reicht optisch tatsächlich an das Original heran und ist für Friends-Fans wie mich ein perfekter Ort zum Kaffee trinken.
Warschau: Altstadt
Auf Reisen meide ich gerne stark touristische Plätze, in Warschau kommt man aber an der „Stare Miasto“, der Altstadt, nicht vorbei. Was auf den ersten Blick historisch wirkt, ist allerdings nur ein Nachbau: Eben weil fast ganz Warschau im Krieg dem Bombenhagel zum Opfer fiel und die opulenten Bürgerhäuser zerstörte, wurde hier bis 1955 fast originalgetreu alles wieder aufgebaut. Den besten Blick auf das „neue alte“ historische Zentrum hat man von der „Taras Widokowy“, der Aussichtsterrasse auf einem Turm der St. Anne Kirche.
In der Altstadt ist allerdings nicht nur Geschichte präsent, sondern auch ein ganz besonderer Mann, nämlich der polnische Komponisten Frédéric Chopin. Er lebte zwar lange in Paris, war aber seiner Heimat Polen stets eng verbunden. Ihm zu Ehren wurden in der ganzen Stadt interaktive Chopin-Bänke aufgestellt, die auf Knopfdruck seine Musik spielen. Wer noch tiefer in der Geschichte gehen will (und es wie ich auch gerne mal makaber mag), besucht die Heiligkreuzkirche: Hier liegt sein Herz – in französischem Cognac eingelegt – in einer Säule und kann tatsächlich besichtigt werden.
Warschau: Shopping
Wer es hip statt historisch mag, spaziert in Richtung der Straße Motokovska, wo man gut einkaufen kann, allerdings abseits der typischen Labels, die ich auf Reisen immer meide (bei mir gilt: local designer first!). In dieser Ecke ist alles ein bisschen alternativer und die Shops vor allem individueller. Zum Beispiel im „Blind Concept Store“ (Ul. Mokotowska 63/100), wo es richtig lässigen Kleinkram gibt, oder die „Loft37 Boutique“ (Mokotowska 52A), wo alle Schuhe und Taschen handgemacht werden. Am coolsten ist die Kollektion, die der beliebtesten Figur im polnischen Fernsehen gewidmet wurde: dem putzigen Hündchen Reksio. Der sitzt keck in bunten Farben gezeichnet auf einem grauen Lederturnschuh – und man merkt wieder: Grau ist in Warschau eigentlich bunt.
Offenlegung
Das Polnische Fremdenverkehrsamt hat mich eingeladen, nach Warschau zu reisen.
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Sehr guter Artikel! Zum Beispiel von dem Pool im Cosmopolitan wusste ich vorher nichts und landete direkt auf meiner Liste für den nächsten Besuch in Warschau. Im Artikel ist allerdings ein Fehler. Warschau fiel nicht dem Bombenhagel zum Opfer, sondern wurde nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands 1944 systematisch niedergebrannt. Die Zerstörung der Stadt (und die Massaker an der Bevölkerung) gehört zu den größten Kriegsverbrechen der Nazis.
Richtig. Stadt und die Zivilbevölkerung wurden dem Erdboden gleich gemacht. Nichtsdestotrotz. Man kann der Armia Krajowa (dt. Heimatarmee) keinen Vorwurf machen. Ruhm, Ehre und ganz viel Respekt für euren Mut ! 🕯️🤍🇵🇱❤️💐