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Rüm hart – klaar kiming: Liebeserklärung an Sylt

Im Westen der Weststrand in Spektralfarben, stark und wild. Im Osten das Watt in Pastellfarben, zart und still. Schafe im Norden, Kegelrobben im Süden. Putzige Häuschen mit Reetdächern, an deren Türen ich klopfen will, um zu sehen, ob die Schlümpfe zu Hause sind. Mystische Heidelandschaften, in denen ich mich immer wieder umdrehe, weil es sich anfühlt, als würde gleich ein Hobbit um die Ecke hüpfen. Die Insel hat es mir leicht gemacht, mich in sie zu verlieben: Sylt umarmt dich, sobald du die Insel betrittst. Und lässt dich auch nicht los, wenn du sie verlässt.


Rüm hart – klaar kiming: Liebeserklärung an Sylt ♥ Lesezeit: 5 Minuten


Die Kimme ist bei den Seefahrern die Linie zwischen Meer und Himmel. Je klarer und schärfer die Kimme zu erkennen ist, desto größer stehen die Chancen, dass das Wetter beständig bleibt. Mit einem prüfenden Blick auf den Horizont sagten nordfriesische Kapitäne früher „Rüm hart – klaar kiming“, bevor sie von der Nordseeinsel Sylt in See stachen und hoch hinauf zum Eismeer schipperten, wo die Jagd auf Wale ein ertragreiches Unterfangen versprach. Nordfriesische Männer fuhren jahrhundertelang zur See, um ihre Familien zu ernähren. Im Jahr 1782 wurden über 150 Schiffe von Sylter Kapitänen befehligt – bei einer Einwohnerzahl von gerade mal 1.800 Menschen. Der Leitspruch der nordfriesischen Kapitäne spielt jedoch nicht nur auf eine sichere Seereise an, sondern auch auf ihre Weltoffenheit: „Rüm hart – klaar kiming“, „Großes Herz – weiter Horizont“.

Wenn die Kimme auf Sylt scharf gezeichnet ist und sich bei klarer Sicht Himmel und Meer berühren, habe ich immer das Gefühl, die Welt stünde grenzenlos offen. Alles scheint möglich, um mich herum genauso wie in mir drin. Der Himmel über dem Weststrand wirkt so weit und offen, sodass ich mich beim Betrachten der Wolken unwillkürlich frage, woher sie überhaupt kommen, wenn doch der ganze Himmel des Universums sich hier, über dieser kleinen Insel in der Nordsee, zu konzentrieren scheint.

Man steckt Sylt gerne in eine Schublade. Es gibt eben Reiseziele, über die man Vorurteile hat – und Sylt ist eines davon. Zu exklusiv, zu elegant, zu exaltiert schien mir immer diese Insel zu sein. Schon seit Jahrzehnten kommen die Reichen und Schönen zur Sommerfrische. Schauspiellegende Marlene Dietrich genauso wie der Komponist Richard Strauss und die Literaten Max Frisch, Theodor Storm, Thomas Mann. Dass nur die High Society nach Sylt reist, ist aber ein Klischee. Denn auch wenn die Insel gerne als die „deutschen Hamptons“ und das „Saint-Tropez des Nordens“ bezeichnet wird, begeht man einen kapitalen Fehler, wenn man nur für Austern und Champagner nach Sylt fährt. Die Insel mag manche Klischees erfüllen, strampelt sich aber frei und aus jeder Schublade heraus.

Sylt überrascht. Bei jedem Schritt, den du um die Ecke gehst, lauert ein neues Wunder und trifft dich fadengerade ins Herz. Es ist die Weite, es ist das große Herz, es ist der Horizont, die einen dazu bringen, jedes Vorurteil sofort über Bord zu werfen, egal ob am Weststrand oder am Wattenmeer. Die Insel hat es mir leicht gemacht, mich in sie zu verlieben: Sylt umarmt dich, sobald du ihren Boden betrittst. Und lässt dich nicht mehr los, wenn du sie verlässt.

Auf Sylt kann man sich verlassen. Und verlassen fühlen, alles zur gleichen Zeit. Im Westen der Weststrand in Spektralfarben, stark und wild. Im Osten das Watt in Pastellfarben, zart und still. Die Nordsee ist unberechenbar. Ist sie hungrig, nimmt sie sich, was sie will. Wenn der „Blanke Hans“ wütet, schrumpft die Insel. Sturmfluten und Brandung tragen jedes Jahr bis zu vier Meter Strand an der Westseite der Insel ab, deshalb kämpfen die Sylter seit jeher um ihren Grund und Boden und jedes Körnchen Sand. Seit 1972 finden Sandvorspülungen an der Westküste statt, bei der jährlich bis zu eine Million Kubikmeter Sand auf die Strände gespült wird.

Sylt muss beschützt werden. An der Südspitze zeigt sich die Nordsee besonders gefräßig. Die Landzunge, die rund um Hörnum in die Nordsee hineinragt, verkleinert sich kontinuierlich. Sie wird vom Meer und vom Wetter Jahr für Jahr reduziert. Während einer Sturmflut im Winter 2005 war der „Blanke Hans“ besonders hungrig. Damals gingen 20 Meter Land an die Nordsee verloren. Sylt ist schützenswert. Jeder siebte Quadratmeter Sylter Boden ist heute Landschaftsschutzgebiet, jeder vierte Quadratmeter steht unter Naturschutz. Insgesamt machen die Schutzgebiete gut 40 Prozent der gesamten Insel aus.

Sylt ist still. Die Naturgewalten der Nordsee bringen zwar Wind, Wogen und salzige Stürme, das Wattenmeer an der Ostseite ist dafür stets verlässlich. Die Tide ist treu, kommt alle sechs Stunden und gibt abwechselnd den Meerboden frei oder bedeckt ihn mit sanftem Plätschern. Seit 2009 gehört dieser Teil der Insel zum UNESCO-Weltnaturerbe. Das Wattenmeer ist ein Mikrokosmos für sich und offenbart eine Welt voller Wunder. Wo sonst zieht sich das Meer zurück und lässt mich dort wandern, wo normal die Wellen wogen?

Mein Staunen quillt jedes Mal über, wenn ich begreife: Der Nationalpark Wattenmeer ist die größte zusammenhängende Wattlandschaft der Welt. An der Spülsaumkante bin ich zu Hause. Spaziere ich mit blanken Füßen durch Sand und Schlick, über funkelnde Priele und wellenförmige Linien, in denen Wattwürmer träge mäandern, spüre ich jedes Mal, wie klein ich bin in diesem großen Ganzen, das vor mir liegt und in wenigen Stunden unter Wasser versinken wird.

Sylt ist klein, Sylt ist groß. Die Insel komprimiert auf einer Fläche von gerade mal 99,14 Quadratkilometern die Wunder der ganzen Welt auf einem Fleck. Wilde Wasser, schroffe Klippen, geschwungene Dünen. Schafe im Norden, Kegelrobben im Süden, dazwischen Kaninchen und Kühe. Wanderdünen, auf denen man nicht wandern darf, weil sie ganz von alleine wandern und über die Thomas Mann schrieb: „Man muss sich dieses merkwürdige Naturphänomen verfünffacht denken, dann glaubt man in der Sahara zu sein.“

Sylt ist mystisch. Viele Sagen und Legenden ranken sich um die Insel, erzählen Geschichten von Seefahrern und Geisterschiffen, von Hexen und Elfen, vom Freiheitskämpfer Pidder Lüng und vom Meermann Ekke Nekkepenn. Spaziere ich durch die einsame Heide und verborgene Dünen, fühle ich mich, als würde ich ein Märchenbuch öffnen. Häuschen mit Reetdächern und moosbewachsenen Steinmauern davor, an deren Türen ich klopfen will, um zu sehen, ob die Schlümpfe zu Hause sind. Wilde Heidelandschaften, durch die ich hüpfe und mich immer wieder umsehend, weil es sich anfühlt, als würde gleich ein Hobbit um die Ecke kommen.

Sylt ist eigenartig, Sylt ist einzigartig. Am Strönwai in Kampen fließt Champagner, vor den Bars parken Dutzende Porsche und Ferrari. Auch als Whiskymeile bekannt, gibt es keinen Ort in Deutschland, der im Verhältnis zur Einwohnerzahl mehr teure Geschäfte hat und wo nobler gefeiert wird. Und nur hier zahlt man bis zu 35.000 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche – die höchsten Quadratmeterpreise der Republik. Der Kontrast wartet aber nur wenige Schritte weiter. Von High-Class-Designer wie Hermès, Tod’s, Burberry oder Bulgari, die unter reetgedeckten Häusern residieren, geht man nur wenige Minuten, bis man in einer Dünenlandschaft steht, zwischen Heidekraut und Sylter Rosen schlendert und vergessen hat, wie mondän die Insel mancherorts sein kann – und wie schnell sie ihr Gesicht ändert. Alles kann, nichts muss auf Sylt, das ist das Schöne. Schick machen, schlampig abhängen, alles ist drin. Die einzige Konstante ist der Sand: Wenn du ohne nach Hause kommst, hast du etwas falsch gemacht. Sylt ist unaufgeregt. Vielleicht liegt es an der Witterung, dass die Insel immer entspannt ist, selbst in Kampen zwischen Champagner und Austern. 

Sylt hat viele Gesichter. Land genauso wie Leute, mal komisch, mal knurrig. Badegäste werden von Ur-Syltern gerne skeptisch beäugt, das ist aber keiner Abneigung geschuldet, sondern der Tatsache, dass man bald wieder abreisen wird. Was kühl rüberkommt, ist nicht immer so gemeint. Man muss sich das große Herz der Insel eben erst verdienen. Nämlich dann, wenn man nicht nur bei Sonne kommt, sondern auch bei Schietwetter. Wenn die Insel ihre Gäste und ihren Glanz verliert und an grauen Tagen Ecken und Kanten zeigt. Die nordische Schöne muss auch mal wüten. Erst, wer sich richtig durchpusten hat lassen, kann wirklich sagen, dass er angekommen ist, dass er Sylt kennt, dass er Sylt mag.

Gischt spritzt mir ins Gesicht und blendet meine Sicht. Das Meer liegt verschwommen vor mir, wogt wütend auf. Wassertropfen verteilen sich tänzelnd auf meiner Nase. Eine Windböe erfasst mich und lässt mich leicht schwanken. Ich nehme die Herausforderung an, drehe mich der Woge entgegen, lasse mich durchpusten. Es ist kalt, doch innen drin wie außen herum scheint wieder alles möglich. Mir wird warm ums Herz. Warm und weit.

Rüm hart – klaar kiming: Liebeserklärung an Sylt

Offenlegung

Dieser Artikel erschien in einer gekürzten Version im Rahmen eines Sylt-Specials auf reisereporter.de. Weiterlesen:

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